Was eine deutsche Außenwissenschaftspolitik zu leisten imstande ist – und welche Aufgabe damit auf Hochschulen und Forschungsinstitute zukommt. Ein Gastbeitrag von Joybrato Mukherjee.
BEI DER TAGUNG des German Academic International Network (GAIN) Anfang September kamen in Bonn viele junge exzellente Wissenschaftler:innen aus aller Welt zusammen. Wie jedes Jahr war GAIN ein Ort des intensiven Austausches, doch angesichts des Ukrainekrieges wurden in den Gesprächen und Diskussionen viele grundsätzliche Fragen gestellt: zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik, zu Deutschlands Verhältnis zu herausfordernden Partnerländern und zum Großen und Ganzen der Science Diplomacy.
Ich habe es als ausgesprochen ermutigend empfunden, dass so viele GAIN-Teilnehmer:innen ein so großes Interesse an ihrer eigenen
Joybrato Mukherjee ist Präsident der Universität Gießen und Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Foto: DAAD_Wilke3.
Rolle als Science Diplomats gezeigt haben.Diese Erfahrung bestätigt meinen Eindruck, dass der Wissenschaftsdiplomatie in einer Zeit tektonischer Verschiebungen in der Geopolitik ein neues außenpolitisches Gewicht zukommt – und dass die Wissenschaft sich dieses neuen Gewichtes bewusst werden muss.
Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat die Bedeutung der Außenwissenschaftspolitik, des grenzüberschreitenden Austausches von Studierenden, Forschenden und Lehrenden sowie der internationalen Zusammenarbeit in der Wissenschaft in den vergangenen Monaten an verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht, so unter anderem bei ihrer Rede zur Erstellung einer Nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März 2022. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich und geboten, dass die Wissenschaft auch ihrerseits ihre Rolle und ihren Beitrag zur nationalen Sicherheit beschreibt und erfasst – und zwar im Sinne eines umfassenden Sicherheitsbegriffs.
Erasmus, Globale Zentren und Schutz
für verfolgte Wissenschaftler:innen
Was können internationaler Austausch und grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Wissenschaft leisten? Drei Schlaglichter sollen an dieser Stelle genügen:
Wir feiern in diesem Jahr 35 Jahre ERASMUS-Programm. Dieses weltweit größte europaweite Programm zur Förderung des Austausches ist ein Erfolgsmodell, an dem bereits eine Million deutsche Studierende teilgenommen haben. Es trägt dazu bei, dass unter jungen Menschen eine europäische Identität durch Begegnung und Verständigung entstehen kann. Mehr noch: Wenn ERASMUS-Studierende im europäischen Ausland in andere Sprach- und Kulturgemeinschaften eintauchen, Perspektivwechsel einüben, eigene Werte vertreten und interkulturelle Aushandlungsprozesse gestalten, dann sind auch sie bereits als Science Diplomats unterwegs. Sie schaffen mit ihren europäischen Kommiliton:innen durch gemeinsames Lernen und in gemeinsamen Projekten eine Vertrauensbasis zwischen europäischen Staaten und Gesellschaften. Ein Vertrauen, das wir brauchen, wenn wir als Europäer:innen den großen Herausforderungen wie der Sicherstellung der Energieversorgung und der Entwicklung hin zur Klimaneutralität gemeinsam begegnen wollen.
Die vom DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amtes neu eingerichteten Globalen Zentren für Gesundheit und Pandemievorsorge sowie für Klima und Umwelt bieten neue Plattformen für einen wissenschaftlichen Austausch zwischen jungen Wissenschaftler:innen aus Deutschland und anderen Staaten, insbesondere im sogenannten Globalen Süden. In diesen Zentren wird das praktiziert, was für unsere Außenwissenschaftspolitik handlungsleitend sein sollte: eine an gemeinsamen Forschungs- und Erkenntnisinteressen ausgerichtete, freie wissenschaftliche Kooperation, in der sich die beteiligten Individuen und Institutionen gleichberechtigt begegnen.
Wechselseitiges Vertrauen erhöht
die gemeinsame Sicherheit
Eine solche partnerschaftliche Zusammenarbeit zu den Grand Challenges unserer Zeit schafft wechselseitiges Vertrauen, das wiederum die gemeinsame Sicherheit auf diesem einen Planeten mit Blick auf globale Gesundheitsrisiken und die Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung erhöhen kann. In den neuen Zentren zeigt sich wie in zahlreichen anderen internationalen Bildungsprojekten, dass wissenschaftlicher Austausch zur nachhaltigen Entwicklung der Weltgesellschaft und damit zur Erhöhung der globalen Sicherheit sowohl durch die Schaffung einer vertrauensvollen Basis als auch durch konkrete Beiträge zur gerechten Transformation unserer Gesellschaften beitragen kann.
Unsere Freunde bei der Alexander-von-Humboldt-Stiftung lancierten mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes 2016 die Philipp-Schwartz-Initiative (PSI). PSI ist seitdem ein stark nachgefragtes Förderprogramm für verfolgte Wissenschafter:innen weltweit, die Zuflucht bei uns suchen und die entsprechend von deutschen Hochschulen für einen akademischen Aufenthalt in Deutschland nominiert werden. Angesichts der deutschen Verbrechen unter dem Nazi-Regime ist es eine für die ganze Welt bemerkenswerte Entwicklung, dass wir mit diesem nach einem jüdischen, von den Nazis entrechteten und vertriebenen Wissenschaftler benannten Programm denjenigen Hilfe anbieten, die vor autoritären und totalitären Regimen in ihren Heimatländern fliehen.
Die PSI-geförderten Wissenschaftler:innen vertrauen auf Deutschland und die Schutzräume, die sie hier vorfinden. Sie kommen in unser Land, um Hoffnung zu schöpfen und einen Neuanfang zu wagen – akademisch-wissenschaftlich und darüber hinaus. Gleiches gilt für das Hilde-Domin-Programm (HDP) für verfolgte Studierende und Promovierende, das der DAAD nach dem PSI-Vorbild seit 2020 anbietet. Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit PSI- und HDP-Geförderten, dass sie sich in Deutschland zum ersten Mal sicher fühlen. Und wenn die Verhältnisse in ihren Heimatländern es zulassen, werden viele von ihnen zurückkehren wollen, dort bei der Weiterentwicklung oder beim Wiederaufbau ihres Landes helfen, und zwar als Freund:innen Deutschlands. Auch solche Freund:innen in der Welt zu haben erhöht langfristig die Sicherheit Deutschlands.
Auch die Wissenschaft ist ein
sicherheitspolitisch relevantes Handlungsfeld
Was ich mit nur drei Beispielen aus dem großen Kosmos des individuellen akademischen Austausches und der institutionellen wissenschaftlichen Zusammenarbeit verdeutlichen will, ist eine vielleicht allzu banale Erkenntnis: In all diesen Kontexten entsteht Vertrauen, helfen wir dabei, Vertrauen aufzubauen, zeigen wir als Bundesrepublik Deutschland uns als vertrauenswürdig und verlässlich. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass sich Deutschland auch über seine "dritte Säule" der Außenpolitik – also in der Auswärtigen Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik – seit vielen Jahrzehnten weltweit einen sehr guten Ruf erarbeitet hat. Dies belegt zum Beispiel die Studie "Außenblick – Internationale Perspektiven auf Deutschland in Zeiten von Corona" (2021), die von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, dem DAAD und dem Goethe-Institut erstellt wurde. Im aktuellen Academic Freedom Index liegt Deutschland auf Platz 1 – auch das strahlt weltweit Vertrauenswürdigkeit, Vertrauen in unsere Institutionen und unsere Wissenschafter:innen aus.
Unser außenwissenschaftspolitisches Ziel muss es sein, mit Hilfe dieses gewachsenen Vertrauens in uns die gemeinsame Basis für die vertrauensvolle Kooperation mit anderen zu verbreitern oder sogar erst aufzubauen. Und auf Basis dieser vertrauensvollen Zusammenarbeit wissenschaftliche Beiträge zur Lösung der globalen Herausforderungen zu erarbeiten. All das kann nur durch Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Individuen und Institutionen gelingen.
Die derzeitige Konstellation mit Russland
ist Gott sei Dank eine absolute Ausnahme
Dies gilt ausdrücklich auch im Umgang mit Staaten und Gesellschaften, die nicht oder nur teilweise unsere Wertvorstellungen, unsere Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit sowie von Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit teilen. Wir dürfen dabei nicht blauäugig sein: Natürlich gibt es Staaten, die wissenschaftlichen Austausch mit uns betreiben wollen, um ganz andere Ziele zu erreichen, etwa um auf illegalem Weg einen Wissens- und Technologieabfluss zu organisieren (vulgo: Spionage zu betreiben) oder um auf kulturimperialistische Weise Narrative über das eigene Land zu prägen. Doch selbst hier gilt, dass es unser Anspruch sein muss, auszuloten, welche Formen der Kooperation für beide Seiten sinnvoll und akzeptabel sind – und welche nicht. Mit den allermeisten Staaten dieser Welt sollten wir unbedingt – um unserer eigenen Sicherheit willen – in solche Aushandlungsprozesse eintreten. Abschottung und Nichtkooperation sind angesichts der gigantischen planetaren Herausforderungen, denen die Menschheit gemeinsam gegenübersteht, keine Alternativen, die unsere Welt und auch unser eigenes Land sicherer machen würden.
Gott sei Dank ist die derzeitige Konstellation mit Russland – ein Staat manövriert sich durch einen völkerrechtswidrigen Überfall auf seinen souveränen Nachbarn in eine selbstverschuldete Isolation und löst damit selbst den Abbruch aller institutionellen Beziehungen auch in der Wissenschaft aus – eine absolute Ausnahme. Aber auch hier ist der Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Vertrauen und Sicherheit sichtbar, wenn auch in zwangsläufig negativer Form.
Wissenschaftlicher Austausch – Vertrauen – Sicherheit: Dieser Dreiklang verdeutlicht, dass internationaler akademischer Austausch und weltweite wissenschaftliche Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert nicht mehr als Formen einer Soft Power angesehen werden sollten. Die hybride Kriegsführung Russlands zeigt auf eine furchterregende Weise, wie neben militärischen Instrumenten unter anderem Information/Desinformation, der Cyberspace und Energie zu sicherheitspolitisch relevanten Handlungsfeldern geworden sind. Auch die Wissenschaft ist, ob sie es will oder nicht, ein sicherheitspolitisch relevantes Handlungsfeld. Sie ist eine "harte Währung" in der internationalen Zusammenarbeit geworden; nicht ohne Grund ist für manche Staaten eine global führende Rolle in Forschung und Technologie integraler Bestandteil einer Grand Strategy zur Verteidigung oder Erlangung einer Weltmachtposition.
Unser Verständnis von einem freien und partnerschaftlichen wissenschaftlichen Austausch und von einer auf fairen Interessensausgleich bedachten außenwissenschaftspolitischen Haltung müssen wir in die Entwicklung einer neuen multilateralen Ordnung einbringen. Einer Ordnung derjenigen Staaten, die das Völkerrecht achten und gleichberechtigt miteinander umgehen wollen. Wir können damit in einer komplexen Welt einen signifikanten Beitrag zu mehr Sicherheit schaffen.
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